Test: Neold Big Al Sättigungs-Plug-In

Das Neold-Team scheint sich in den Disziplinen Sättigung und Verzerrung sehr gut auszukennen, vor allem aber auch richtig zu Hause zu fühlen. Nach Phils Cascade folgte der V76U73 und nun Big Al, dessen Name auf eine in der Schaltung verwendete Valvo-Endröhre mit der Bezeichnung AL4 zurückzuführen ist. Es wird aber auch in der dritten Runde überhaupt nicht langweilig, denn alle drei Plug-Ins unterscheiden sich sehr deutlich voneinander: Phils Cascade, die ungebremst wilde, experimentelle Spielwiese, V76U73, das authentische, subtile Abbild zweier historischer Originale und nun Big Al, das einfach bedienbare, sehr musikalische Werkzeug als schmeichelndes Heilmittel für einen typischen analogen Klang. Kurz gesagt, wer das eine hat, kann das andere trotzdem vermissen. Big Al basiert wie Phils Cascade auf der Entwicklung eines nur einmal existierenden analogen Prototypen aus der Hand von Roger Schult, der in diesem Fall Vor- und Endstufe konzeptionell einsetzt, um Sättigungs- und Verzerrungsprodukte zu erzeugen. Big Al ist kein ‚Rechenmodell‘ aus der Retorte, sondern das minutiöse Abbild eines analogen Vorbildes, das über verschiedene Entwicklungsstufen in einen vom Team kollektiv akzeptierten, finalen Funktionszustand gebracht wurde – Neold kopiert sich in diesem Falle also auch wieder selbst. Das Original bedient sich vornehmlich aus der Komponenten-Historie der Pionierzeit, die drei verwendeten Röhren AL4, EF9 und AZ1 stammen aus den 1930er Jahren, wie viele der anderen eingesetzten Bauteile auch.

Die Rollenverteilung im Neold-Team hat sich bewährt und dementsprechend auch nicht verändert: Dominik Klaßen ist der Ideen-/Impulsgeber und marktbeobachtende Kreativgeist, Roger Schult der erfahrene, nicht minder kreative Daniel-Düsentrieb-Analogentwickler und Raimund Dratwa schließlich der versierte Übersetzer in die digitale Welt mit sehr viel Hintergrundwissen zur analogen Technik. Big Al ist neben der Tatsache, ein analoges Original digital zu repräsentieren, eine Hommage an eine goldene Epoche der Studiotechnik, in der es für verschiedene Aufgaben praktisch zwangsweise spezialisierte Werkzeuge gab: einfach, zielgerichtet und oft auch das viel zitierte One-Trick-Pony. Die Limitierung von Funktionalität in heute als historisch bezeichneten Gerätschaften begründete sich vielfach durch den Aufwand bei der Umsetzung. Gerade wegen dieser Beschränkungen war aber auch der richtige Platz am Werkzeuggürtel schnell gefunden. Trotzdem darf man sich zu Recht fragen, warum Gerätschaften aus der grauen Vorzeit sich auch heute noch so großer Beliebtheit erfreuen, in einer Zeit, in der wirklich alles für eine grenzenlos aberwitzige Signalmanipulation zur Verfügung steht, bei Leuten, die eigentlich nicht in Kategorien der technologischen Vergangenheit denken können oder wollen. Hier wäre man beinahe geneigt, eine Parallele zum aktuellen Zeitgeist zu konstruieren. Spezialisten haben in der Regel ganz fokussierte oder spezielle Fähigkeiten. Dieser Vorteil scheint sich heute bei der Rollenverteilung in der Musikproduktion eher zum Nachteil zu entwickeln, denn jeder muss aus bekannten Gründen möglichst alles können, dafür aber eigentlich nichts mehr richtig, oder, freundlicher ausgedrückt, nicht mit der gesegneten Expertise eines spezialisierten Fachmanns. Unter Kollegen beschreiben wir diese Rolle scherzhaft mit dem Begriff ‚Universaldilettant‘. Vielleicht fragen sich junge Kollegen ja tatsächlich, wie ein Werkzeug mit einem derart simplen Funktionsangebot so tief wirken kann, ohne den ganzen Schnickschnack, den man sich heutzutage von jedem Plug-In wünscht. Big Al ist daran gemessen so etwas wie eine Zeitreise, dahin, wo es noch auf elementare Signaleigenschaften ankam.