Stillstand?

‚Sehr geehrte Damen und Herren, wir können Ihnen die erfreuliche Nachricht übermitteln, dass die professionelle Audiotechnik zu Ende entwickelt ist. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Spaß und Erfolg mit Ihrer Audio-Hard- und Software und werden uns zukünftig anderen Aufgaben widmen.‘ Einen solchen Brief der Audioindustrie müssten wir Anwender doch eigentlich schon längst alle in unseren Postkästen gefunden haben. Oder anders gesagt, es wurde schon alles entwickelt, nur noch nicht von allen. Und das scheint es auch hauptsächlich zu sein, was uns in schneller Abfolge immer ‚neue‘ Produktideen beschert, die in den meisten Fällen lediglich ein Zitat einer schon vorhandenen Entwicklung sind, die durchaus auch Jahre zurückliegen kann. Was wir momentan erleben, kann man als Übertragung der analogen Technik auf die digitale Ebene verstehen. Nahezu sämtliche bedeutsamen Technologien der analogen, aber auch der frühen digitalen Hardware-Welt existieren mittlerweile als Plug-In in unserer Workstation-Umgebung. Das ist ungeheuer praktisch, denn alle Werkzeuge, die wir im Studio einsetzen, werden damit speicher- und automatisierbar und können in beliebiger Reihenfolge, Position und Verschaltung mit ein paar Mausklicks in den Signalweg eingefügt werden. Ein anderes Argument scheint aber noch viel wichtiger: Für eine Handvoll Euro bekommen wir nicht nur ein Gerät, sondern so viele Instanzen (‚Geräte‘), wie unsere CPU-Ausstattung ausrechnen kann. Man muss jetzt nur noch glauben, dass es keinerlei Unterschiede zwischen analogem oder digitalem Hardware-Original und der entsprechenden Emulation gibt, dann ist die Studiowelt in allerbester Ordnung –  minimaler Investitionsaufwand für eine maximale Funktionsausstattung. Nun ja, auf ein paar analoge Geräte werden wir wohl auch in Zukunft nicht verzichten können, wenn es darum geht, das Gros von Mikrofonsignalen zu verstärken und anschließend  zu digitalisieren, oder das Produzierte zu analogem Gehör zu bringen. Die Markteinführung so genannter ‚digitaler‘ Mikrofone ist als beachtenswerte Einzelleistung eines deutschen Unternehmens ins Stocken geraten und konnte sich bisher nicht auf breiter Front durchsetzen. Dennoch wäre es vorstellbar, dass die Digitalisierung im Mikrofon selbst stattfindet und analoge Verstärkung damit überflüssig würde. Der einzige Hinderungsgrund für eine vollständige Digitalisierung sind unsere Ohren, die wir bislang nicht durch einen operativen Eingriff umgehen können. Nachdem das Ende der Tonträgerära bereits eingeläutet ist, bewegen wir uns von der Produktion bis zum Konsum in einer vollständig virtuellen Welt. Damit wir uns nicht ganz so entmenschlicht fühlen, zeigt man uns fotorealistische Abbildungen von Geräten auf dem Bildschirm, die man ehemals real anfassen konnte und auch die ‚Platte‘ erscheint nur noch als Bildchen, während wir sie hören. Das ist durchaus ressourcenschonend und preisgünstig bis kostenlos. Was auf anderen Ebenen in virtuellen Welten gespielt wird, können wir jetzt auch: Wir spielen ‚Tonstudio‘ ohne nennenswerten Hardwareaufwand, wobei der Rechner, der uns unsere Scheinrealität präsentiert, noch zu den größten Investitionen gehört. Aber mit so einem Rechner kann man ja auch noch viele andere (virtuelle) Dinge tun, die uns komfortabel die Realität ersetzen. An dieser Stelle müsste jetzt eigentlich ein flammendes Plädoyer für die analoge Technik folgen, die magisch und einzigartig ist und niemals durch ein mathematisches Modell ersetzt werden kann. Aber so ein bisschen fehlt mir die Motivation, mich darauf einzulassen. Wenn alles so unwahrscheinlich bequem, speicher- und automatisierbar ist, so flexibel, wandelbar, preisgünstig, rückstandsfrei entsorgbar, schnell und einfach – was zählen da ein paar nicht einmal bewiesene Argumente für ‚gewisse Unzulänglichkeiten‘ und ‚rechnerische Vereinfachungen‘, mit denen wir uns in der digitalen Welt auseinanderzusetzen haben? Ich glaube, ich gehe gleich mal runter in mein esoterisch verseuchtes Studio und schaue mir meine analogen Geräte ein letztes Mal an, bevor ich sie gedanklich in die digitale Welt der unbegrenzten Möglichkeiten übertrage...

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