Rollenspiele

Haben Sie auch schon diese gefährlich-grimmig dreinschauenden Architekten und Neurochirurgen auf ihren Harleys gesehen, die mit kompletter Ausstattung durch die Straßen knattern? Easy Rider wollen sie wohl alle sein, ein bisschen Freiheit spüren und als harte Kerle gesehen werden. Neben der Harley für 33.000 Euro, gehört auch noch ein Helm dazu, der neuwertig schon so aussieht, als hätte er 100.000 km Highway auf dem Buckel (399 Euro), derbe Stiefel aus Rindsleder nicht zu vergessen (284,90 Euro), die Lederjacke für 599 Euro und die Lederhose (299 Euro) – ich könnte diese Liste noch eine Weile fortführen, wenn ich nur fachkundig genug wäre. Wahrscheinlich habe ich sogar vergessen aufzuschreiben, was den wirklich coolen Biker ausmacht – vielleicht Nieten am Sattel? Im kommenden Frühling, wenn die Temperaturen wieder einigermaßen auf Niveau sind, dann sind sie alle wieder da. Bei uns im Naherholungsgebiet Grafenmühle, wo die Motoren brüllen und alles nach Auspuff schmeckt, in Woodpeckers Steakhouse oder am Pommesbuden-Bikertreff. Diese Art von Image lassen sich die Herren der Schöpfung etwas kosten, und so richtig geil ist es eben nur mit Originalzubehör für die fette Maschine und den sichtbar aus den Nähten geratenen, ehemals stählernen Korpus. Man muss Insider sein, um zu wissen, was den echten Helden der Landstraße ausmacht. Das gilt auch für die Strichmännchen in ihren bunt bedruckten Wurstpellen auf ihren Karbon-Rennrädern für 3.000 Euro mit Helmen, die an computergesteuerte Vogelnester erinnern, für Kitesurfer, Auto- und Car-Stereo-Tuner und was weiß ich noch. Ich schlüpfe in eine Rolle, die mich zu etwas Besonderem macht und mich aus dem grauen Alltag entfliehen lässt. Da ist mir nichts zu teuer. Freitagabends gehen die Mädels in die Disko im knappen Glitzerkleidchen, sich mal als Star fühlen, sich selbst inszenieren, was den Alltag während der Woche an der Supermarktkasse oder im Speditionsbüro kompensieren und besser ertragen hilft. Aber ob es dauerhaft zufrieden macht, immer nur kurzzeitig in eine andere Haut zu schlüpfen? Viele von uns kommen aus einer Epoche, in der die fette Analog-Konsole mit 72 Kanälen, Doppelfünfzehner-Pötte in der Bruchsteinwand und 12 Meter Rackspace mühelos als Ersatz für eine Harley hätten gelten können. Aber das war keine Flucht in eine andere Rolle, sondern das war die Realität. Unser Alltag war wirklich mit Insignien geschmückt, die uns ein paradiesisches, erhabenes Gefühl vermittelten. Wir brauchten keine Ersatzausstattung, um uns wichtig zu fühlen. Die Exklusivität mag vielleicht durch die technologische Revolution etwas gelitten haben, aber wir sitzen immer noch in Raumschiffen, die jetzt allerdings etwas anders ausgestattet sind. Viele Bildschirme und bunt leuchtende Controller verleihen uns auch heute noch das Gefühl, Astronauten zu sein, während die anderen schnöden Verwaltungsarbeiten in tristen Büros nachgehen oder sich im Tiefbau bei Scheißwetter den Rücken krumm machen müssen. In letzter Zeit wird ja viel gejammert, über die kaputten Preise, über die schlechte Auftragslage, über das Heer von Self-made-Toningenieuren, die mit Laptop und Logic so tun, als gehörten sie zur Profiliga, über den Verlust von Know-how, Klangvorstellung und Hörvermögen, über die Regentschaft der Software, die uns alle zu Bediensklaven macht und uns unseren Freiraum für Kreativität raubt. Aber so ist es nicht. Wir gehören einer sehr kleinen Gruppe von Privilegierten an, die ihr Hobby und ihre Leidenschaft zum Beruf machen durfte. Wir müssen uns nicht auf Motorräder setzen, um einmal das Gefühl zu haben, etwas Besonderes zu sein. Das wird viel zu oft vergessen. Also lassen Sie uns das neue Jahr mit positiven Gedanken beginnen und das Privileg, von Beruf Leidenschaftstäter zu sein, als ein wunderbares Geschenk und perfekte Grundlage (auch) für geschäftlichen Erfolg betrachten. Mit dieser Einstellung kann 2019 eine spannende Fortsetzung unserer Reise werden.

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