Im Wandel der Zeit

Das Mikrofon als elementares Werkzeug der Studiotechnik ist wie kein anderes von jahrzehntelanger Beständigkeit und gleichzeitig auch ständigem Wandel gekennzeichnet. Auf der einen Seite schwärmen wir von über 60 Jahre alten Mikrofonklassikern und ihrem unvergleichlichen Klang, auf der anderen Seite vom virtuellen Mikrofon mit manipulier-, automatisier- und speicherbaren Parametern als Bestandteil eines modernen Workflows. In diesem Sonderheft stehen daher Mikrofonhistorie und moderne Entwicklungsansätze gleichgewichtig nebeneinander. Dabei frage ich mich, wofür ich eigentlich selbst brenne, und da kommen mir Zweifel, ob ich diese Frage eindeutig beantworten kann. In meiner Brust schlagen zwei Herzen – das des Befürworters von Individualität und Charakter und das des ewigen Spielkindes, dem nichts Technisches neu genug sein kann. Inzwischen habe ich den Zwang abgelegt, immer das neueste Smartphone mit dem neuesten Betriebssystem haben zu müssen, unter Protest zwar und unter dem Druck der finanziellen Belastung, die dieses Streben mit sich bringt, aber tief im Innern brodelt diese unbändige Neugier auf das Neue eben doch weiter, und es gibt kaum eine andere Branche, in der sich diese Neigung so hemmungslos ausleben lässt und der Leidensdruck dank monetärer Grenzen so hoch sein kann. Als ich im Tonstudio Keusgen bei unserem Big-Five-Hörtest einen Karton nach dem anderen mit diesen Mikrofon-Ikonen öffnete und noch viel mehr, als ich sie hörte, wurde mir klar, wie wichtig und unersetzlich dieser starke Klangcharakter für die Musik- und Klangkunst tatsächlich ist. Wenn Klänge so individuell und unverwechselbar werden, dann hat man ein wichtiges emotionales Ziel in der Musikproduktion erreicht. Aber da gibt es eben auch noch die andere Welt, die Realität des Alltags, die stundenlanges Auswählen von Werkzeugen nicht zulässt, und schnelles Arbeiten erzwingt, weil Zeit in diesem Fall eben leider Geld ist. Und dann finde ich ein virtuelles Mikrofon ganz großartig, denn es vermittelt mir, zu jeder Zeit eine individuelle Auswahl treffen zu können, spontan und schnell zwar, aber ich muss nicht mit der zweitbesten Lösung leben und auch nicht mit einer aus Zeitdruck falsch getroffenen, irreversiblen Entscheidung. Ich gebe zu, hier setzt bei mir ja oft auch die Kritik ein, über die Unfähigkeit jüngerer Generationen, Entscheidungen zu treffen, und aber auch wirklich alles bis zum Schluss offenzuhalten. Das kann sehr frustrierend sein und steht auch weiterhin auf meiner Liste der Fehlentwicklungen in unserer Branche. Jemand, der weiß, was er tut, kann jedoch solche Werkzeuge zum Vorteil einsetzen, weil die Entscheidung nicht mehr von einem einzigen wichtigen Moment abhängt – das, was wir früher als ‚magische Momente‘ im Studio bezeichnet haben. Die Magie wird mit solch modernen Hilfsmitteln zu einem gewissen Grad planbar, und das empfinde ich als ganz neue, gedankliche Dimension. Es gab eine Phase, in der das analoge vom digitalen Mikrofon hätte abgelöst werden können, eine Chance, die jedoch aus, im Nachhinein betrachtet, nicht erklärbaren Gründen verpasst wurde. Vielleicht war es zu einfach gedacht, die A/D-Wandlung einfach nur an eine andere Stelle der Signalkette zu verlagern? Dafür gibt es aber aktuell spannende Entwicklungen, bei der die Frage nach digital oder analog, und an welcher Stelle, nicht gestellt wird. Es geht um Mehrkapselsysteme, so genannte Ambisonics-Mikrofone, die jederzeit einen Zugriff auf das räumliche Schallfeld und die Richtwirkung erlauben. Die Aufnahme wird unabhängig vom Zielformat, das jederzeit eine Änderung erfahren kann. Auch hier geht es wieder um die Verlagerung von Entscheidungen, wohl aber noch viel mehr um flexible und formatübergreifende Prozesse, die alle von einem gleichen Aufnahmeformat ausgehen können. Im Endeffekt stelle ich für mich fest, die Leidenschaft kann viele Ziele finden, wenn man mit der Audiobranche verheiratet ist. Der Nostalgie-Trip kann ebenso spannend wie die virtuelle Realität sein, deren Produktionsabläufe selbst Virtualisierungstendenzen zeigen.

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