Gegenstimme

Nachdem ich schon einige Diskussionen mit Kollegen darüber geführt habe, möchte ich an dieser Stelle einmal ein paar Gedanken zur wiedererstarkten Vinylscheibe äußern. Vielleicht komme ich ja auch nur darauf, weil wir gerade planen, zu Hause Vinylboden zu verlegen. Es ist natürlich immer schön, wenn eine schon verloren geglaubte Handwerkskunst eine Renaissance erlebt. Eventuell wäre es ja auch schön, wieder zarte Frauenhände an Spinnrädern und sich der Ehre wegen duellierende Männer zu erleben, oder eine private Telefonzelle als Lifestyle-Produkt anzubieten. Es freut sicher auch die wenigen Kollegen, die mit Schallplattenschnitt und -pressung ganz unerwartet noch einmal Geld verdienen können. Das Überspielen einer Schallplatte ist wirklich eine hohe Kunst und meine Bewunderung für die Erfahrung, das Fingerspitzengefühl und das erforderliche Fachwissen steht außer Frage. Es mag auch ein Erlebnis sein, wenn man eine schwarze Scheibe mit Samthandschuhen aus der Hülle zieht und auf seinen erdbebensicher gelagerten Marmor-Plattenspieler legt. Was dann aber kommt, ist ja nicht die ‚hohe Klangschule‘, von der so häufig geschwärmt wird, sondern eine mittelmäßige technische Qualität mit magerem Störabstand, heutigen digitalen High-End-Wiedergabesystemen bei Weitem unterlegen. Eine schwarze Scheibe klingt nicht besser, sondern anders. Der Vergleich mag hinken, aber wir lobpreisen ja auch die Bandsättigung als klanglichen Gewinn, obwohl das Signal dabei verbogen wird, was es eben nicht besser, sondern einfach nur anders macht, möglicherweise sogar attraktiver. Ich nehme mir das Recht heraus, den Vinylhype in Frage zu stellen, denn ich bin mit diesem Medium aufgewachsen und habe auch haufenweise romantische und emotional tiefgreifende Erinnerungen daran. Wenn wir uns in jungen Jahren trafen, also in den 60ern, um die blind gekaufte neue Platte der Beatles zu zelebrieren, dann war das ein echtes, bleibendes Erlebnis. Wir saßen im Wohnzimmer des Freundes, dessen Eltern die bestklingende Musiktruhe besaßen, und lauschten schweigend erst der A- und dann der B-Seite. Danach sprachen wir über jeden einzelnen Titel und hörten das Ganze mindestens noch drei- bis viermal. Das waren die Momente, die mir klarmachten, dass ich Gitarre spielen lernen muss. Aber deshalb weine ich der Schallplatte keine Träne nach, denn es ist ja nicht die Schallplatte, die mich wehmütig macht, sondern die Erinnerungen, die damit verbunden sind. Heute sitzen Mittzwanziger in meinem Studio und wollen ein Mastering für ihre neue Vinylscheibe, die so etwas wie ein verlorengegangener Platzhalter ist, denn Musicstreaming kann man nicht anfassen. Das Produkt existiert nur noch als Datenpaket und so ist die Vinylscheibe, manchmal auch die Compact Cassette, bisher aber noch nicht die Schellackplatte oder Wachswalze, ein sichtbarer Beweis dafür, dass man wirklich etwas produziert hat. Es ist schon skurril, wenn mir ein junger Typ etwas von dem haptischen Erlebnis und dem rituellen Vorgang des Auflegens einer Schallplatte näherbringen will. Mit der Schallplatte hat das nichts zu tun, wohl aber mit dem Ereignis, die an sich unsichtbare Musik erlebbar zu machen. Das weiß man aber erst, wenn man die Dinge aus der Erinnerung richtig einordnen kann. Meinetwegen sollen weiter Schallplatten gepresst und verkauft werden, es ist ja nichts Verwerfliches daran. Ich denke aber, dass viele dieser Schallplatten niemals abgespielt werden, sondern dass Musik einfach nur sichtbar den Besitzer wechseln soll. Die CD hat bei diesem Vorgang den Nachteil, zu klein zu sein. Sie wurde mit ihren eigenen Waffen vom Streaming geschlagen, das noch viel komfortabler und unkomplizierter als jeder vorstellbare Tonträger ist. Vielleicht wäre es ja doch eine Überlegung wert, eine Wachswalze in einer edlen Holzschatulle für besondere Momente aus der Taufe zu heben. Nur – wer weiß denn noch, wie man eine Wachswalze bespielt und herstellt?

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