Ergomania

Während im Bereich der Consumer-Elektronik in unveränderter Härte der Wettlauf um das kleinste Mobiltelefon, den kleinsten Minidisc-Recorder, die kleinste Videokamera oder den kleinsten Laptop tobt, jeweils mit noch kleineren Tasten und offensichtlich auf der Suche nach dem Anwender mit den kleinsten Händen, hat man in der Studiotechnik nach einigen wenig erfolgreichen Versuchen, Studiogeräte in ähnlichem Maße zu miniaturisieren, wieder zum guten alten Gigantismus zurückgefunden, mit neunzehn Zoll als kleinster denkbarer Maßeinheit. Die Ära der Multilayer-Mischpult-Bedienoberflächen mit einem zentralen Bedienfeld und acht Reglern für 192 Kanäle ist bereits vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hat – und auch die platzsparende Unterbringung zahlloser virtueller Knöpfchen auf einem Bildschirm scheint nicht gerade der Weisheit letzter Schluss gewesen zu sein, denn selbst die talentiertesten Mausakrobaten stellen inzwischen fest, dass jeweils eine Funktion zur gleichen Zeit nicht gerade zu den schnellsten Fortbewegungsarten in einem unter Zeitdruck ablaufenden Produktionsprozess darstellt. Eine Tonregie mit nichts weiter als einem Bildschirm, einer Tastatur und einer Maus, alles in dezentem Office-Design, hat außerdem die erotische Ausstrahlung eines grauen Opel Kadetts in einer Autoschlange bei schlechter Sicht. Doch selbst wenn unsere Begeisterung für die Studiotechnik rein zweckbezogener Natur ohne emotionalen Hintergrund wäre, müssten doch die Argumente für eine vernünftige Bedienbarkeit im Vordergrund stehen. Und gut bedienbar ist, was man schnell anfassen und erfassen kann. Diesem Prinzip folgend werden Mischpulte wieder größer, damit ihre Bedienoberflächen mehr Information vermitteln und eine größere Anzahl von Reglern für einen intuitiven Zugriff mit beiden Händen zur Verfügung stellen können. Diesem Prinzip folgend werden Workstations mit zwei oder gar drei Bildschirmen ausgestattet, damit man wenigstens alles auf einmal sehen kann, was sich mit der Maus eh nicht bedienen, sondern schließlich auch nur noch mit einem nach vernünftigen ergonomischen Gesichtspunkten gestalteten Hardware-Controller und einer größeren Anzahl von Bedienelementen beherrschen lässt. Den größten Zuspruch überhaupt genießen 19-Zoll-Geräte mit riesigen Reglerknöpfen, die an die gute alte Zeit des Dampfradios erinnern, denn eine gelungene Ergonomie hat auch etwas damit zu tun, wie sich eine Bedienoberfläche anfühlt. Beobachten Sie einmal einen Kollegen bei der Arbeit im Studio und erkennen Sie sich dabei selbst: Hinhören, hinsehen, hingreifen, ertasten, drehen, schieben mit beiden Händen gleichzeitig und ohne große Überlegung; denn der Gedanke daran, was als nächstes zu tun ist, bedarf keines besonderen Planes. Wir reagieren ohne groß nachzudenken auf das, was wir hören. Menüstrukturen und Bedienunterebenen, die einen Teil unseres Konzentrationsvermögens aufbrauchen, haben in einer kreativen Abfolge der Aktion und Reaktion keinen Platz. Der guten Bedienbarkeit eines Gerätes sollte deshalb das Prinzip der Bring- und nicht der Holschuld zugrunde liegen. Ein Gerät, dass uns ständig mit der Suche und dem Heranschaffen von unmittelbar benötigten Funktionen auf Trab hält, ist ein schlechtes Gerät, denn bis die gewünschte Funktion endlich zur Verfügung steht, hat man möglicherweise schon wieder vergessen, was man eigentlich damit machen wollte – oder die Lust an einer kleinen spontanen Idee ist bereits wieder verflogen. Nur weil wir Spezialisten sind, müssen Studiogeräte nicht kompliziert sein – denn wer von uns wollte sich schon darauf spezialisieren, verschraubte Gedanken von Produktdesignern nachzuvollziehen, die uns oft nicht einmal nach unserer Meinung fragen. Hatte der Beruf des Tonmeisters oder Toningenieurs nicht ursprünglich einen ganz anderen Sinn? Da unsere nächste Ausgabe (Dezember) erst zwischen Weihnachten und Silvester gedruckt und versandt wird, möchte ich Ihnen an dieser Stelle - auch im Namen unseres Redaktions- und Verlagsteams - ein schönes und ruhiges Weihnachtsfest im Kreise Ihrer Familie oder Freunde und einen guten Start ins Neue Jahr(tausend?) wünschen. Bleiben Sie gesund!

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