Der Mensch ist ein Prothesengott
Eigentlich sind wir Menschen körperlich gesehen schwach, aber unser Erfindergeist denkt sich allerlei Hilfsmittel aus, um schneller, stärker und überlebensfähiger als jede andere Spezies auf diesem Planeten zu sein. Aber nicht nur das, wir wollen auch die Zeit überdauern, mit Schriftzeichen, Bild- und Tondokumenten, um die eigene Vergänglichkeit zu überwinden. Wir vervielfachen die Leistungsfähigkeit unserer Sinne und verwenden in gleicher Weise Prothesen für das Ohr – Mikrofon und Lautsprecher, und irgendwann einmal das Hörgerät, um auch dieses Altersgebrechen zu bezwingen. Mein erstes eigenes ‚Prothesen-Erlebnis‘ hatte ich durch die Mischpultautomation – damals sagten wir präziser ‚Fader- und Mute-Automation‘, denn mehr konnte dieses ‚Holzbein‘ zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Ich konnte plötzlich mehr ‚bewegen‘, als mir das mit meinen zehn Fingern an meinen beiden Händen möglich war. Der Vorgänger dieser zum damaligen Zeitpunkt noch rudimentären Gehhilfe war die Choreografie eines Produktionsteams am Mischpult. In dieser ‚Tanzformation‘ hatte jeder eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu regeln oder zu schalten, um das vollziehen zu können, wozu ich alleine nicht in der Lage war. Man muss sich eben nur zu helfen wissen, solange die herbeigesehnte Technologie noch nicht erfunden wurde. Inspiriert durch das Interview dieser Ausgabe mit Gregorio García Karman möchte ich (mir selbst) einmal die Frage stellen, welche Bedeutung ein Studio heute eigentlich hat. Kein Lamentieren über die verwaschene Linie zwischen Amateur und Profi oder die Studiopreismisere. Prinzipiell leben wir heute alle im audiotechnischen Paradies: Schier unendliche Möglichkeiten, aber auch der ständigen Verführung ausgesetzt, selbst vor der Allmacht der Technologie zurückzutreten. Es wird viel zu häufig gefragt, was die Technik kann, anstatt Gedanken zu entwickeln, mit welcher Technik wir unsere Klangvorstellungen oder musikalischen Ideen realisieren können. In einem Interview mit Darcy Proper vor schon recht vielen Jahren machte es ‚klick‘ in meinem Kopf, als sie mir erklärte, dass sie nach Equipment sucht, mit dem sie ihre Klangvorstellungen umsetzen kann, und nicht darüber nachdenkt, wie sie ein neues Gerät oder eine neue Software denn wohl sinnvoll einsetzen könnte. Das, was mit oder von individueller Menschenhand nicht musiziert werden kann, übernehmen Sequenzer, unsere Unzulänglichkeit wird quantisiert und unsere Tonhöhenschwäche korrigiert. Im Grunde reicht heute ein Rülpser ins Mikrofon, um daraus eine Musik entstehen zu lassen, mit zahlreichen Hilfsmitteln, die ich gerade so gerne als Prothesen bezeichne, damit unsere ‚Unzulänglichkeiten‘, die uns erst zu Menschen machen, mal als das dargestellt werden, was sie sind – als Gabe. Unser Geist strebt unterdessen weiter nach Perfektion und ist ständig damit beschäftigt, Ton zu ‚reparieren‘, um hier unser geliebtes Fachgebiet als Beispiel heranzuziehen. Dass wir das nun auch können, praktisch alles reparieren oder generieren, morphen und zurechtbiegen, setzt uns der Gefahr aus, uns selbst zu verlieren. Ich will nicht übertreiben, aber es gibt ja auch schon technologische Ansätze für Musikkompositionssysteme oder digitale Assistenten, die uns Sound- oder Bearbeitungsvorschläge machen. Ein Algorithmus lernt aus dem, mit dem er gefüttert wird, und beginnt, aus statistischen Daten ermittelte Grundlagen für ein automatisches Mastering zu entwickeln. Natürlich erfinden einige hochbegabte Geister unter uns diese Technologien, die uns jedoch eines Tages dazu verdammen werden, passive Zuschauer eines einstmals von uns selbst inszenierten Schauspiels zu werden, dann, wenn Roboter selbst Musik komponieren und produzieren. Jetzt mal schnell den Kopf ausschütteln und zurück zur aktuellen Realität: Ja, der Mensch ist ein Prothesengott und wird nicht aufhören, das zu sein, aber glücklicherweise sind wir ja doch mit einem Apparat gesegnet, den man landläufig als ‚Gehirn‘ bezeichnet und der mit unserem Herzen und unserer Seele in engem Kontakt steht. Und so liegt es in unserer Hand, wie sehr wir uns selbst verwirklichen oder uns von Technologie verwirklichen lassen wollen.