Das Ende der Realität?

Immer häufiger begegnen mir Menschen in meinem privaten, aber auch beruflichen Umfeld, die durch einen irgendwie abwesenden Blick oder tiefergelegte Augen in blässliche Erscheinung treten. Der Kopf ist meist gesenkt, was heute normal zu sein scheint, angesichts der Tatsache, dass wirklich beinahe jeder auf sein Smartphone starrt, egal, wo er sich gerade befindet. Da ist es kein Wunder, wenn die eine oder andere Kopfverletzung zum Alltag der Notaufnahme gehört, wenn wieder einmal ein virtuell Entrückter mit dem Schädel gehen einen Laternenpfahl oder vor ein Auto gerannt ist. Kontaktarmut, eine auf das Physische beschränkte Anwesenheit und ein verblüffend detailliertes Fachwissen zu Themen, die niemanden wirklich interessieren, sind die Begleiterscheinungen, die ein normales Gespräch mit einer derartig infizierten Person oft sehr schwierig gestalten. Ich habe es zwar nie verstanden, aber es gibt wohl nicht nur junge Menschen, die ganze Nächte am Bildschirm mit Spielen verbringen, in einer selbst erwählten Rolle, als schwarzer Ritter, FBI-Agent oder Cyborg, Feinde in die Flucht zu schlagen und Schatztruhen oder Goldtaler zu erbeuten. Der erfahrene Spieler wird merken, dass ich absolut keine Ahnung von dieser Thematik habe, aber so in diese Richtung geht das Ganze ja wohl. Der Smombie, wie er neudeutsch genannt wird, gehört heute zum Alltagsbild und ich gebe ja auch zu, dass ein solches Smartphone schon praktisch ist. Da jedoch alle Informationskanäle heute eine nicht zu bewältigende Flut über uns hereinbrechen lassen, geht es vor allem darum, die richtige Dosierung zu finden, da man nicht den ganzen Tag mit Lesen und Lernen oder dem Anschauen von Videos verbringen kann und hoffentlich auch nicht möchte. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Informationen wollen wir an dieser Stelle ausnahmsweise außer Acht lassen. Die Virtualisierung, das stellen wir nicht zum ersten Mal fest, erobert immer mehr Territorium und wir lassen uns in vielen Fällen leichtgläubig darauf ein. Viele Dinge unseres Alltags spielen sich auf Bildschirmen ab, und wir neigen dazu, dies als Realität anzuerkennen. Es ist ganz selbstverständlich, dass man Audio heute auch sehen können möchte, als Wellenform oder als Wasserfalldiagram eines Nachhallsignals, das sich dynamisch-grafisch mit unseren Einstellungen, wohlgemerkt an virtuellen Reglern, verändert. Als die erste Eisenbahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth in Betrieb genommen wurde, fragte man sich, ob der menschliche Organismus bei einer solch hohen Bewegungsgeschwindigkeit nicht Schaden nehmen würde. Heute stellt man sich die Frage, ob unser Orientierungssinn, unser Gleichgewichtsorgan oder ganz allgemein unser Körper nicht krank werden könnten, irritiert von einer durch Blickrichtung und Bewegung gesteuerten künstlichen 3D-Welt, für die wir offensichtlich nicht gemacht wurden. Es ist auf jeden Fall eine Sinnestäuschung, die vermutlich nicht ohne Folgen bleiben wird. Auch nur eine naive Fehleinschätzung wie die damaligen Ängste vor Geschwindigkeiten, die wir nicht aus eigener Kraft erreichen können? Ich kann das nicht beurteilen, aber ich weiß, dass unsere Studioarbeit sich immer weiter in den Rechner verlagert und wir sehnsüchtig nach Ersatz für fehlende Haptik suchen. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis wir eine 3D-Brille tragen, und unsere Studiowelt noch viel ‚echter‘ abgebildet wird, in dem wir uns darin scheinbar bewegen. Ich weiß nicht so genau, ob ich Angst davor haben oder mich darauf freuen soll, wenn ich mit meinen Händen nach Bedienelementen greife, die sich vor mir zu befinden scheinen. In Wirklichkeit greife ich natürlich ins Leere, denn da ist nichts real Existierendes. Auch wenn es vielleicht altmodisch klingt, aber ich ziehe es vor, nur Dinge anzufassen, die auch wirklich da sind. Oft aber sieht die Zukunft nicht so aus, wie wir sie uns heute vorstellen können und vielleicht dauert es auch gar nicht lange, bis man sich daran gewöhnt hat, in einem leeren Raum zu einem virtuellen Mischpult zu gehen. Es wird aber wahrscheinlich ganz anders sein – wir werden einfach nur an eine Funktion denken und schon hören wir das Ergebnis. Oder vielleicht hören wir auch gar nicht mehr, sondern denken nur, was wir sonst gehört hätten?

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