Angriff der Quarks
Ich erinnere mich noch gerne an die Zeit, als auf Pro Audio Messen feierlich Samttücher gelüftet wurden, um ein neues atemberaubendes Produkt aus der Taufe zu heben. Ich bin im Besitz eines Fotos, das zwei sehr wichtige Herren im Anzug zeigt, die vor Beginn der Messe heimlich der Konkurrenz unter das Tuch schauten, weil sie ihre Neugier offenbar nicht bremsen konnten. Es handelte sich dabei übrigens um ein digital gesteuertes Analogpult, das das Licht des Marktes nie gesehen hat. Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, die moderne Kommunikationsgesellschaft hat uns eines Wertes unwiederbringlich beraubt, so als hätte man den Kindern die Weihnachtsbescherung weggenommen. Die Naivität, die aus meinen Worten spricht, habe ich immer als ein Stück Lebensqualität betrachtet.
Wenn ich heute auf eine Messe gehe, weiß ich schon im Detail, was mich erwartet und alle Samttücher sind in der virtuellen Realität des Internets bereits entfernt worden. Ich könnte theoretisch einen Messebericht schreiben, ohne dort gewesen zu sein. Warum also sollten Sie überhaupt noch auf eine Messe gehen? Die Kultur der elektronischen Post hat nicht nur zu einer Verstümmelung unserer Muttersprache geführt, sondern sie hat mit ihrem massenhaften Aufkommen den maschinen- oder handgeschriebenen persönlichen Brief vollkommen verdrängt. Stattdessen bekomme ich täglich hunderte von E-Mails, die einen belanglosen Sachverhalt beschreiben, für den ich früher niemals ein Blatt Papier aus dem Schrank genommen hätte. Ich ersticke in Information, und ich sortiere sie jeden Monat neu, um daraus eine Ausgabe des Studios Magazins zu machen, die Ihr Interesse auf das Wesentliche lenken soll, so gut es eben geht. Abseits meines vielleicht merkwürdig anmutenden Gefühlsausbruchs frage ich mich natürlich auch, welche echten Überraschungen uns die professionelle Audioindustrie tatsächlich noch zu bieten hat. Neue Produkte prasseln wie E-Mails über uns herein, und viele von ihnen sind so nebensächlich, wie der Inhalt der E-Mails, die ich nach einem kurzen Überfliegen lösche. Manche Produktideen würde ich sogar in die Kategorie ‚Spam‘ einordnen, denn sie trüben lediglich unseren Blick für wichtige Werkzeuge, die uns ein kreatives Arbeiten ermöglichen.
Die Begegnung mit Geoff Emerick während der AES in Amsterdam hat mir gezeigt, wie wesentlich die Produktion von Musik dereinst einmal war. Es ging um die Musik, um die Emotionen, die sie transportiert und um die Hingabe der Musiker, uns eine wichtige Nachricht zu überbringen – nicht darum, mit welchem Plug-In ich eine missglückte Performance aufwerten oder gar retten kann. Es war die Beschränkung, die zu großen Taten verhalf. Manche von Ihnen mögen meine Ausführungen als sentimentales Geschwätz abtun, von jemandem, der gerade zufällig eine generelle Unzufriedenheit verspürt, aber seien wir doch einmal ehrlich: Welche bahnbrechenden Erfindungen und Ideen haben wir in technologischer Hinsicht in den vergangenen zehn Jahren erlebt? Was davon hat wirklich den Status eines Höhepunktes? Welche Musik hat Sie in jüngster Vergangenheit echt berührt? Werden wir nicht alle zugeschüttet mit Me-Too-Erzeugnissen, sowohl auf der musikalischen als auch der technologischen Ebene? Natürlich kann man nicht jeden Tag so etwas wie das Rad erfinden, aber müssen es deshalb tausende von Rädern sein, die uns eine individuelle Auswahl kaum noch ermöglichen? Jeder, der mich etwas besser kennt, weiß, dass ich ein hoffnungsloses Spielkind bin und keinesfalls die Begeisterung für herausragende Ideen verloren habe.
Ich möchte mal wieder über etwas wirklich Wichtiges berichten können, über etwas, das Ihnen spontan ganz neue Perspektiven eröffnet, zum Beispiel eine Technologie, die uns der Realität musikalischer Ereignisse ein großes Stück näher bringt. Wenn ich alte Aufnahmen aus den 60er Jahren höre, zum Beispiel legendäre Bigband-Produktionen oder die Höhepunkte der Motown-Ära, dann stelle ich fest, dass wir nicht sehr weit gekommen sind. Große Musiker gibt es schon seit über 200 Jahren. Kann es denn ein bedeutender Unterschied sein, dass zeitgenössische Aufnahmen als einzige Errungenschaft weniger rauschen? Ich habe mir jedenfalls nicht erst heute zum Ziel gesetzt, den Morast der Belanglosigkeiten zielstrebig zu durchwaten und die Augen für Wertvolles offen zu halten, für Ideen, die ein Samttuch verdient hätten...